Die Herrschaft der
Großväter
Die Vergangenheit war eine Prophezeiung
dessen,
was kommen sollte. Wäre ich ein Poet gewesen, hätte
ich es
eleganter auszudrücken vermocht. Doch ich war kein Poet. Nur
eine
dunkel gekleidete Gestalt, die dem Herbstwind trotzte. Ich suchte in
der Deckung einer kurzen Plakatwand Schutz und steckte mir eine Camel
an. Leichter Regen setzte ein. Irgendwo hinter den grauen Wolken stand
die Sonne am Firmament. Verdeckt vom Schleier irdener Gewalten. Ich
ging weiter. Ließ die glimmende Zigarette aus dem Mundwinkel
baumeln. Ein Wohnblock reihte sich an den anderen. Dreißig
Stockwerke hoch. An der Basis sehr breit, verjüngten sich die
Türme mit zunehmender Höhe. Ähnlich einer
Skateboardrampe. Die unteren Geschosse waren mit Balkongärten
versehen, deren Eigentümer wuchtige Kistenpflanzen als
Sichtschutz
hingestellt hatten. Mich störten diese individuellen
Abweichungen
von Farbe und Symmetrie. Brachten Chaos in die Wahrnehmung einer
ansonsten weißen Wand mit schmalen Fensterbändern
und
dunklen Einbuchtungen. Zerkratzten das Bild der Perfektion. Es war
später Nachmittag, und immer mehr Menschen zogen eiligen
Schrittes
an mir vorüber. Kinder von der Ganztagsschule, die
zurück zu
ihren Eltern kehrten. Männer in schwarzen Mänteln
oder
verschmutzter Arbeitskleidung. Frauen im schicken Kostüm
ebenso
wie in legeren Jeans. Der Strom aus der nahe gelegenen
Untergrundbahnstation riss nicht ab, und ich verlangsamte weiter mein
Tempo. Sah in diese Gesichter, die vor Schmerz verzerrt, vor Hoffnung
gespannt oder vor Gleichgültigkeit zerstört waren.
Ich
ließ die Kippe fallen, zertrat sie und
zündete eine
neue Zigarette an. Inhalierte den Rauch und dachte zurück an
Charkiw, wo ich in einer vergleichbar großen Wohnsiedlung wie
dieser aufgewachsen war. Natürlich in einer nicht
vergleichbaren
Infrastruktur. Und doch waren die Menschen dieselben geblieben.
Bloß steckten sie in anderen Körpern. Hatten andere
Geschichten zu erzählen, andere Biographien, hatten vielleicht
auch andere Ideologien im Kopf. Ich begab mich zu einem der zahllosen
Eingangsportale. Sie waren von braunen Säulen flankiert und
erinnerten ein wenig an Periskope. Dort stieg ich die grauen, von
Handläufen gesäumten Stufen zum Foyer hoch. Ich
setzte mich
in eines der harten, leicht ramponierten Kunstledersofas und wartete
darauf, dass der Feierabendansturm langsam abklang. Obwohl ich mein
ganzes Leben lang immer wieder inmitten großer
Menschenansammlungen gestanden hatte, fühlte ich mich stets
besser, wenn ich allein war. Niemand rings um mich herum war, dessen
Geruch ich wahrnehmen oder dessen Stimme ich ertragen musste. An der
Wand direkt vor mir war ein raumhohes Gemälde von Alfred
Hrdlicka
angebracht, das ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit intensiv
studierte. Eigentlich hatte ich von darstellender Kunst wenig Ahnung,
da ich mich mehr für Literatur interessierte, doch nach und
nach
hatte ich mir dieses spezielle Werk erschlossen. Erkannte das Leid, die
Angst, den Schmerz und auch die Bedrohung, die in den blassen
Gesichtern der dort hingemalten Leute standen. Und je intensiver ich
diese Szenerie betrachtete, desto mehr Ähnlichkeit erkannte
ich zu
jenen Menschen, denen ich gerade erst begegnet war. Wenn auch in einem
völlig anderen Kontext. Hrdlickas Figuren ächzten
unter dem
Joch der Unterdrückung, jene in meinem Kopf unter dem Stiefel
des
Mammons. Beides hatte seinen ureigenen Schrecken. Nach zwei weiteren
Zigaretten erhob ich mich schließlich. Begab mich zu
einem
der Lifte und fuhr allein in der Kabine hoch in den achtzehnten Stock.
Dort schloss ich die Tür zu meiner kleinen Wohnung auf,
streifte
die Schuhe ab und holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier.
Als
ich mit dem Getränk in der Hand raus auf die Loggia ging und
runterblickte auf all die Ameisen, die über die Gehsteige
wimmelten, nahm ich einen tüchtigen Zug. Und mir kam wieder
der
Tag in den Sinn, als ich mit sechzehn zum ersten Mal einen Menschen
getötet hatte.
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Mikhail
Volkov wächst in der Ukraine in ärmlichen
Verhältnissen
auf. Sein Vater Alkoholiker, seiner Mutter gleichgültig, fl
üchtet er sich vor den Misshandlungen im eigenen Heim und
tritt in
die Armee ein. In der Kaserne angekommen, wird er mit dem brutalen
System der Dedowschtschina konfrontiert: Der Herrschaft der
Großväter, die alle Rekruten über die
Neuankömmlinge ausüben. Nach Jahren der
Unterdrückung
wird Volkov schließlich selbst ein Großvater - und
zieht
nach seinem Ausscheiden aus der Armee eine blutige Spur der Gewalt
hinter sich her.
.
Die Herrschaft der Großväter
Thriller von Michael Koller
Taschenbuch, 266 Seiten, € 12,90 (A)
ISBN 978-3-99074-027-9
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Der Titel ist
auch als e-book erhältlich
Weltbild
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Thalia
Von Michael Koller bisher erschienen
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Sand des Vergessens
978-3-99074-185-6
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Michael Koller
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