Zimmer 305

»Zimmer 306. Ich fuhr mit dem Lift in den dritten Stock. An jedem anderen Tag hätte ich die Treppe benützt. Ich wollte nicht schwitzen. Der Körpergeruch hätte gestört. Mit einem zischenden Geräusch öffnete sich die Lifttür. Der Gang war nur schwach beleuchtet. Das kam mir entgegen. Es sollte mich niemand erkennen. Die Gefahr war zwar gering, dass ich jemanden treffen könnte, der mich kannte. Dennoch schaute ich mich vorsichtig um. Ich war allein. Dreihundertfünfzehn, dreihundertsechzehn – also die andere Richtung. Nach dreihundertzehn bildete der Gang einen rechten Winkel nach rechts.
Es mochten vielleicht noch zwanzig Meter bis Zimmer 306 sein. Meine Hände wurden langsam etwas feuchter, kleine Schweißperlen traten auf meine Stirn. War es wirklich klug hierherzukommen? Es waren inzwischen doch zweiunddreißig Jahre vergangen. Ich hatte ihr Gesicht noch genau vor Augen: das leicht fallende, dunkel brünette Haar, die großen, kastanienfarbigen Augen, der laszive, volle Mund. Ein Mund, der oft leicht spöttisch lächeln konnte und der mich über so viele Jahre in Atem gehalten hatte. Ob sie sich wohl sehr verändert hatte? Zweiunddreißig Jahre, eine lange Zeit für ein Menschenleben.
Wie würde sie jetzt wohl aussehen? Meine Hände begannen, leicht zu zittern. Je näher ich der Tür kam, desto mehr geriet ich in Zweifel, das Richtige zu tun. Sollte ich es nicht bei unseren gemeinsamen Erinnerungen belassen? Erinnerungen an eine Zeit, die ich genossen hatte, die so nicht wiederkommen würde. Es war eine abgeschlossene Geschichte. Dachte ich zumindest. Bis dann ihr Brief kam, altmodisch, handgeschrieben, in einer teilweise schwer lesbaren Schrift. Sie hatte mir noch nie einen Brief geschrieben, daher kannte ich ihre Handschrift auch nicht. Ich wurde aus seinem Inhalt nicht klug. Eine Einladung, eigentlich mehr eine Aufforderung, sie zu treffen. Kein Hinweis, schon gar keine Erklärung, was der Grund für dieses Treffen sein sollte. Ich war zu neugierig, um die Nachricht einfach zu ignorieren. So viele Jahre nichts und dann wie aus heiterem Himmel:

»Bitte, komme am dritten Mai ins Hotel Königshof nach Biberbach im Mostviertel. Ich erwarte Dich auf Zimmer 306. In alter Verbundenheit, Judith.«

In alter Verbundenheit, das passte eigentlich nicht zu ihr. 


»Bitte komme am dritten Mai ins Hotel Königshof nach Biberbach im Mostviertel. Ich erwarte dich. In alter Verbundenheit. Judith.«
Diese Nachricht erhält Johannes Fenner von seiner ehemaligen Geliebten. Sie haben sich schon lange aus den Augen verloren. Fenner bekleidet mittlerweile ein hohes Amt im Außenministerium. Könnte ein Treffen mit der linksradikalen Judith seiner Karriere schaden?
Allen Bedenken zum Trotz macht sich Fenner auf ins Hotel Königshof. Neugierig öffnet er Judiths Zimmertür und bleibt verblüfft stehen. Im selben Augenblick wird er von hinten niedergeschlagen.
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Zimmer 305
Kriminalroman von Willi Hotes und Herbert Pauli
Taschenbuch, 213 Seiten, € 12,90 (A)
ISBN 978-3-903092-79-2



Zimmer 305 ist auch als e-book erhältlich

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